Eine Ode an die Reisnerstraße
Vom Klosterdorf zum modänen Botschaftsviertel
Wenn Häuser sprechen könnten, würde das Eckhaus Reisnerstraße 41 wahrscheinlich eine lange Geschichte erzählen. Denn dieses Haus hat nicht nur Kaiserwetter und Kälteeinbrüche überstanden, sondern auch das Auf und Ab der Wiener Stadtentwicklung. Es steht im Herzen des Botschaftsviertels – dort, wo heute große Fensterflügel weit in den Himmel öffnen und wo Geschichte nicht inszeniert, sondern gelebt wird.
Doch fangen wir von vorn an. Damals, als Wien noch bedeutend kleiner war, haben in der Stadt schon viele Menschen von Großem geträumt. Die Gegend um die heutige Reisnerstraße war zu Zeiten der Römer ein wichtiger Verkehrsweg, später Heimat eines Klosters, das dem Heiligen Nikolaus geweiht war – daher übrigens auch die charmante Bezeichnung „Nicolai“ für diesen Teil der Vorstadt Landstraße. Jahrhunderte, Belagerungen und Bauphasen später wurde die Gegend parzelliert, bebaut. Und dann kam Gustav Ritter von Schlesinger, der Bauherr des Zinshauses in der Reisnerstraße 41.
Nachdem er angeblich im schlesischen Lotteriespiel einen ordentlichen Batzen Geld gewonnen hatte, wurde aus dem Journalisten ein Baumeister im besten Sinne: Er gründete eine Privatbank, kaufte ein Ziegelwerk und ließ, ausgerechnet mit Ziegeln aus eigener Produktion, unter anderem das Haus in der Reisnerstraße 41 errichten. Für das architektonische Feingefühl sorgte niemand Geringerer als Heinrich Ritter von Förster, der das Gebäude so entwarf, dass es sich würdevoll zwischen den neu entstandenen Wohnhäusern der Reichen und Schönen der Stadt sowie den Botschaftspalais einreihte.
Die zwei Herren schafften mit dem Gebäude ein durchdacht proportioniertes, liebevoll gestaltetes Stück Wiener Stadtgeschichte. Von 2023 bis 2025 wurde es unter dem Namen Nicolai 1873 revitalisiert, aufgestockt und erlebt unter der Federführung von Rendite & Substanz eine Renaissance, die sich sehen lassen kann.
Von der barocken Decke im Entrée über die fein gegliederten Fassaden bis zu den originalen Stuckdecken wurde das Haus mit großer Achtung vor dem Original revitalisiert. Und wenn eine Wand mal nicht im rechten Winkel steht, dann ist das kein Mangel, sondern eine Erinnerung daran, dass in Wien selbst der Putz Charakter hat.
Ein Spaziergang durch die Reisnerstraße heute ist deshalb mehr als nur ein Ausflug durch den dritten Bezirk – es ist eine kleine Zeitreise. Man riecht den frischen Kaffee vom Bistrot ums Eck, hört die Kinder vor der Volksschule lachen und sieht, wie sich Vergangenheit und Gegenwart mit einem Kopfnicken grüßen. Wer ganz genau hinschaut, kann sie vielleicht noch sehen: die Zeitspuren. Und die Menschen, die sie mit Feingefühl bewahrt haben.
Kategorien
Schlagworte